Es war einmal ein Schneemann, der auf einer Wiese am Waldrand stand. Die Kinder hatten ihm keinen Schal um die Schultern geschlungen – er spürte die Kälte ohnehin nicht. Nicht mal einen umgedrehten Kochtopf hatte er als Hut bekommen, aber er stand dort so würdevoll, als trage er einen Zylinder. Schön machte ihn vor allem die dicke Karottennase, die weit über die schneebedeckte Wiese leuchtete.
Die war auch dem kleinen Hasen aufgefallen, der jeden Tag hier entlanghoppelte. Sie blitzte verführerisch orange in seinem Sichtfeld auf, sodass er immer öfter hinsehen musste, je näher er dem Schneemann kam. Bald konnte er den Blick nicht mehr abwenden. Die Karotte war groß, saftig, und bestimmt schmeckte sie frisch und würzig, wie die Möhren in Bauer Kessmanns Garten. Schnuppernd setzte sich das Häschen auf die Hinterpfoten. Ja, ihm war fast, als rieche es nach den Kräutern, die im Frühjahr neben den Möhren im Beet standen. Nach den Kräutern, nach Salatblättern und …
Halt!, schalt er sich selbst. Energisch schüttelte er den Kopf, dass die langen Ohren nur so flogen. Nichts da! Träumereien und Erinnerungen machen nicht satt, nur hungrig! Aber die Karotte an diesem Schneemann, die war ja da … ob er nicht vielleicht … nur ein kleines bisschen? Unschlüssig legte er den Kopf in den Nacken. Die Möhre leuchtete weit über ihm. Wie sollte er da herankommen? Als er die Augen gegen die Sonne zusammenkniff, glaubte er fast, den Schneemann unter seiner Karotte lächeln zu sehen. Das war natürlich Unsinn.
Missmutig zuckte der Hase mit den Löffelohren und beschloss, den doofen Schneemann links liegen zu lassen. Stattdessen stöberte er im Schnee, flitzte mal hierhin, mal dorthin, steckte das Näschen in die Erde und die Ohren in die Höhe.
„Was machen Sie da?“, ertönte es plötzlich aus einem tiefen Mauseloch, das der Hase voller Neugier gefunden hatte. Erschrocken stolperte er rückwärts und purzelte kopfüber durch den Schnee, bis er mit dem Rücken gegen etwas Festes stieß.
Nachdenklich betrachtete der Hase den Schneemann, gegen den er gefallen war. Sein Magen knurrte und bestärkte ihn in seinem Entschluss: Jetzt wollte er es wissen! Probeweise setzte er die Pfoten an. Eigentlich nicht anders als normaler Schnee, stellte er fest und begann vorsichtig hinaufzuklettern. Gar nicht so einfach! Immer wieder rutschte er ab. Verflixte Karotte noch eins! Plötzlich begann die Erde zu beben. Erst schwach, dann immer heftiger und schließlich so stark, dass der Hase sich festklammern musste. Ein tiefes Brummen ertönte. Was war das?
„Hihi, nicht am Bauch, hihihi, ich bin doch so kitzelig!“, rief jemand mit tiefer Bassstimme. Der Hase spürte jede einzelne Vibration in den Pfoten. Holterdipolter stürzte er vom Schneemannbauch und landete unsanft auf dem Boden. Er rieb sich die Augen. Aus dem Schneegesicht zwinkerten ihm zwei dunkle Kohleaugen zu. Der Hase zwinkerte verblüfft zurück.
„Oh, ich freue mich ja so!“, brummte der Schneemann. „Ich habe mir so sehr gewünscht, endlich mit dir reden zu können!“
„A… ach ja?“, fragte der Hase, der gar nicht wusste, wie ihm geschah.
„Ich bin doch so einsam“, murmelte der Schneemann verlegen. Schnell fügte er hinzu: „Und ich muss unbedingt etwas wissen: Wie sieht die Wiese ohne den Schnee aus?“ Diese Frage brannte dem Schneemann schon seit er denken konnte im Herzen. Verblüfft antwortete der Hase: „Na, grün.“
Der Schneemann hatte noch nie Grün gesehen.
„Die Tannen sind grün“, erklärte der Hase geduldig. Aber der Schneemann sah die Tannen nicht. Sie standen in seinem Rücken. Alles, was der Schneemann sah, war die schneebedeckte Wiese in leuchtendem Weiß. Da setzte sich der Hase neben den Schneemann und erzählte ihm Stunde um Stunde von grünen Wiesen, vom Frühling und vom Sommer.
„Sag mal“, begann der Schneemann irgendwann, „warum wolltest du auf mir klettern? Ich dachte, Hasen leben am Boden?“
„Tun wir ja auch.“ Nun war es der Hase, der verlegen war.
„Und?“
„Na ja … also … Ach, du erfährst es ja sowieso, ich wollte mir deine Karotte holen!“
So, nun war es raus. Ob der Schneemann böse war? Vorsichtshalber versteckte das Häschen sich hinter seinen langen Ohren.
„Meine Nase?“ Dem Schneemann stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Warum denn das?“
„Na ja, weil …“ Der Hase brachte es nicht übers Herz, ihm alles zu sagen. „Und du? Wieso kannst du überhaupt reden?“, fragte er stattdessen.
„Na, ich habe es mir so sehr gewünscht.“
„Und ich habe mir eine Karotte gewünscht“, murmelte der Hase leise und fühlte sich ganz schlecht. Jetzt wollte er die Karotte nicht mehr – nicht diese. In diesem Moment rumorte sein Magen lautstark. Er hatte seit Tagen nichts Richtiges gegessen!
„Du hast Hunger“, stellte der Schneemann fest. „Was esst ihr Hasen eigentlich?“
„Ähm … Kleeblätter! Und Löwenzahn!“, sagte der Hase schnell.
„Wächst das im Winter?“
„Nein.”
„Was isst du denn dann? Was aus dem Wald?“
„Da gibt es jetzt nur widerliche Rinde“, nuschelte das Häschen.
„Du musst doch noch etwas anderes essen können! Irgendwas!“
Der Hase antwortete nicht. Es war wohl sein sehnsuchtsvoller Blick, den er nicht verbergen konnte, so sehr er den Schneemann auch mochte, der ihn schließlich verriet. Jedenfalls sog der Schneemann scharf die Luft ein. „Ach so!“ rief er aus. „Ich würde sie dir ja geben …“
Der Hase strahlte.
„Aber ich weiß nicht wie.“
Die Ohren des Hasen, die er vor Aufregung kerzengerade aufgerichtet hatte, knickten ein und er zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich will auch nicht, dass du keine Nase mehr hast.“ Sein Magen unterstrich das mit einem lauten Grummeln.
Sie schwiegen lange. Der Hase kauerte sich dicht an den Schneemann, der ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. So saßen sie auch noch da, als es dunkel wurde. Der Vollmond ließ die Schneedecke glitzern, und die eisgeschwängerte Luft roch nach Tannennadeln und Schnee. Aneinandergekuschelt sahen die beiden neuen Freunde hoch zu den Sternen.
„Ich frage mich immer noch, warum du reden kannst“, murmelte das Häschen schläfrig, kurz bevor ihm die Augen zufielen. Da löste sich eine Sternschnuppe und fiel vom Himmel, geradewegs auf die beiden zu. Als sie näher kam, wurde sie größer und größer, bis schließlich ein Kind vor den beiden stand.
„Dies ist eine besondere Nacht“, sagte es. „Und in besonderen Nächten werden Wünsche wahr. Aber das größte Geschenk ist oft etwas, das man sich gar nicht gewünscht hat.“
Als die Morgensonne dem Hasen das Fell kitzelte, dachte er kaum noch an seinen Hunger. Er freute sich auf den Tag mit seinem neuen Freund. Aber was war das? Da lag eine Karotte zwischen seinen Pfoten! Entsetzt sah er zum Schneemann hoch. Der strahlte und reckte ihm seine neue Nase entgegen. Sie war grün! Ein Tannenzweig schmückte sein Gesicht. In dieser Nacht waren sie beide beschenkt worden: der eine mit der Farbe, der andere mit dem Geschmack des Sommers.
„Glaubst du, das war das Christkind heute Nacht?“, fragte der Schneemann. Der Hase nickte. Ja, ganz bestimmt.
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zauberhafte Weihnachten, besinnliche Feiertage und
ein gutes, kreatives neues Jahr 2018!