Märchen gehören zur Weihnachtszeit wie Plätzchen und Tannenbaum. Und wen juckt es als Schriftsteller da nicht in den Fingern, mal selbst eines zu schreiben? Schwer kann es ja nicht sein …
Nur: Was genau ist eigentlich ein Märchen? Es gibt viele Kriterien dafür – die aber fast alle auch in anderen Geschichten vorkommen können. Was also haben Aschenputtel oder das tapfere Schneiderlein mit Momo und dem kleinen Prinzen gemein? Hier eine kleine Einführung in die Welt der Märchen und des Märchenschreibens.
Der Begriff ist die Verkleinerungsform des ursprünglich aus dem Altdeutschen stammenden Wort „Mär“ und bedeutet einfach „kleine Erzählung“. Märchen sind eine Gattung und ein Genre gleichzeitig und lassen sich nur schwer auf eine Definition eingrenzen – unter anderem deshalb, weil es so viele verschiedene Märchenformen gibt. Klar ist aber, dass Märchen fast immer von etwas Fantastischem erzählen und in einer Welt spielen, in der alles beseelt ist und es keine Grenzen (Sprachen, Kultur, Nationen usw.) gibt.
Märchenkriterien
Es gibt trotzdem ein paar Kriterien, an denen sich Märchen erkennen lassen (aber Vorsicht: diese sind einzeln nicht hinreichend und nicht jedes Märchen erfüllt alle Kriterien; die meisten davon können gerade beim Kunstmärchen auch in Variationen vorkommen):
- Die Geschichte führt zur Lösung einer vorhandenen Mangelsituation („Cinderella“ wird von ihren Stiefschwestern und ihrer Stiefmutter drangsaliert, die Lösung liegt in der Hochzeit mit dem Prinzen), meist durch einen zauberhaften Aspekt / Helfer (die gute Fee) oder eine besondere Gabe für den / die Protagonist/in (die schönen Kleider)
- Universalität: Das Geschichtenuniversum ist eine einzige Welt, in der alles beseelt ist. Tiere, Pflanzen oder Dinge können daher oft selbstverständlich sprechen (wie z.B. „der dicke fette Pfannkuchen“ oder die Tauben in „Aschenputtel“). Gerade beim Kunstmärchen können zwar durchaus zwei parallele Welten vorkommen, meist gibt es dann aber zumindest keine Fremdsprachen u.ä.
- Auch im Kunstmärchen wird meist (aber nicht immer) einsträngig oder linear erzählt.
- Die Schwachen siegen (wie in der Fantasy). Auch in Märchen ohne Happy End ‚siegen‘ die Protagonisten auf die ein oder andere Art. Hans Christian Andersens bittersüße Märchen sind ein gutes Beispiel: „Die kleine Meerjungfrau“ bekommt zwar den Prinzen nicht, trotzdem gewinnt sie, da sie als Luftgeist über die Meerleute und die Menschen aufsteigt; ebenso „das Mädchen mit den Schwefelhölzern“: es erfriert, kommt dann aber in den Himmel.
- Märchen erzählen von einem positiven Ideal.
- Es gibt magische Figuren und Dinge, die sich von den übrigen Figuren abgrenzen und oft isoliert stehen (die gute Fee hilft „Cinderella“, hat aber keine Beziehung zu weiteren Figuren). Anders als bei der High Fantasy ist das Magische also nicht allgegenwärtig (es handelt sich um keine magische Welt), aber dafür immer handlungsrelevant. Und gerade das ist „märchenhaft“: das Auftauchen von Magie in der eigentlich entzauberten Welt.
- Zumindest im Volksmärchen wundert sich trotzdem niemand über die Magie – ebensowenig wie über sprechende Tiere.
Volksmärchen
Eigentlich sind Märchen ein Volksstoff. Das heißt, sie wurden nicht von einem bestimmten Autor verfasst, sondern von Generation zu Generation weitererzählt und dann irgendwann gesammelt und aufgeschrieben – in Deutschland von den Gebrüdern Grimm. Natürlich haben aber auch die ihre eigenen Änderungen und ihren Stil einfließen lassen: Die Märchenfloskeln „Es war einmal …“ und „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ stammen von den Gebrüdern Grimm.
Kunstmärchen
Es gibt aber auch Märchen, die nicht aus der mündlichen Überlieferung stammen, sondern tatsächlich von einem bestimmten Autor erdacht und aufgeschrieben wurden. Das nennt man dann Kunstmärchen. Am bekanntesten sind die Kunstmärchen Hans Christian Andersens (dessen Märchen aber oft mit denen der Gebrüder Grimm verwechselt werden), aber auch moderne Märchenromane wie die „Tintenwelt“-Trilogie von Cornelia Funke oder Michael Endes „Momo“ zählen zu den Kunstmärchen.
Buchmärchen(-ton)
Manche Kunstmärchen erinnern in ihrem Stil an die ‚klassischen‘ Märchen (also die Volksmärchen). Literaturwissenschaftler nennen das Buchmärchen bzw. den Buchmärchenton. Wenn Sie ein Märchen schreiben, sollten Sie sich also zuallererst fragen, was für ein Märchen Sie schreiben wollen: ein modernes Kunstmärchen oder ein ‚klassisches‘ Buchmärchen im Stil der Gebrüder Grimm?
Romantische Märchen
Nein, damit sind keine Liebesmärchen gemeint :). Das romantische Märchen ist eine Spezialform des Kunstmärchens, wie es die großen Autoren der deutschen Romantik verfasst haben: Novalis, Wilhelm Hauff, Ludwig Tieck usw. Die Geschichte von „Kalif Storch“ oder die von „Hyazinth und Rosenblüth“ z.B. sind romantische Märchen. Meist loten sie das Verhältnis von Realität und Fantasie aus.
Wirklichkeitsmärchen
In der Romantik kam eine weitere Form des Märchens auf, das Kunstmärchen und Phantastik verbindet. Es spielt immer in der dem Leser bekannten Alltagswelt und lässt das Wunderbare plötzlich und unerwartet passieren. Leser und Protagonist wissen meist nicht, ob das Ganze wirklich passiert oder ob der Held es z.B. nur träumt. Der Germanist Richard Benz hat für solche Märchen den Begriff des Wirklichkeitsmärchens eingeführt. Eines der ersten und bekanntesten Wirklichkeitsmärchen ist E.T.A. Hoffmanns Weihnachtsmärchen „Nußknacker und Mausekönig“, das später von Tschaikowski als Ballett umgesetzt wurde.
Ein Märchen zu schreiben kann also ganz unterschiedlich umgesetzt werden. Gerne unterstütze ich Sie dabei mit einem Märchenlektorat.